Schlafsaal des Elisabeth-Hauses Bad Nauheim - Kinderheilanstalt

Ein Beitrag von Fred Kaspar

Im Aufsatz von Fred Kaspar, „Bethesda, Bethanien, Siloah und Bethlehem – Kinderheilstätten als Diakonie und Caritas“, der in der Rheinisch-westfälischen Zeitschrift für Volkskunde (66. Jahrgang 2021, S. 308-374) erschienen ist, wird die lange und weitgehend in Vergessenheit geratene Geschichte der Kinderkur in Deutschland beleuchtet.


Die vergessene Geschichte der Kinderkur in Deutschland

Kaspar erklärt eingangs, dass die Kinderkur, wie sie bis in die 1960er Jahre von vielen Jugendlichen erlebt wurde, aus verschiedenen Gründen aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden ist: Die Kur wurde allgemein als veraltetes Instrument der Gesundheitsfürsorge angesehen, die Gesundheit der Kinder hatte sich verbessert, und das Familienleben hatte sich grundlegend gewandelt.

Der Autor macht deutlich, dass die Kinderkur ab Mitte des 19. Jahrhunderts für Kinder, die als schwächlich, anämisch, rachitisch oder skrofulös galten, eine wichtige Maßnahme war. Für viele Kinder war dies oft die einzige Reise ihres Lebens. Noch 1960 machten allein in Westdeutschland jährlich etwa 350.000 Kinder eine Kur in einem der damals rund 850 existierenden Heime. Mit der zunehmenden Verbreitung von Urlaubs- und Sommerreisen für Familien verschwand die spezielle Form der Kinderkur allmählich. Die einst zahlreichen Heime, die von Kommunen, Kreisen, Firmen, Verbänden, Kirchen, Orden und der Eisenbahn betrieben wurden, verloren ihre ursprüngliche Funktion.


Diakonie und Caritas: Träger der Kinderheilstätten

Kaspar konzentriert sich in seiner Arbeit auf die Trägerschaft der Diakonie und Caritas, die eine wesentliche Rolle bei der Gründung und dem Betrieb vieler dieser Kinderheilstätten spielten. Er geht der Frage nach, wie diese Heime entstanden, wie sie finanziert wurden und welche pädagogischen und medizinischen Ansätze dort verfolgt wurden.

Der Fokus liegt dabei auf der Entwicklung von der reinen Krankenpflege hin zu einer ganzheitlichen Betreuung, die auch Aspekte der Erziehung und Bildung umfasste.


Typen und Standorte: Spezielle Kinderheilstätten und ihre Wirkung

Ein zentraler Aspekt des Textes ist die Darstellung der verschiedenen Arten von Kinderheilstätten. Es gab Einrichtungen, die sich auf spezifische Krankheitsbilder wie Tuberkulose spezialisierten, aber auch solche, die allgemein für „schwächliche“ oder „nervöse“ Kinder gedacht waren. Die geografische Lage der Heime spielte ebenfalls eine wichtige Rolle, da man davon ausging, dass bestimmte Klimazonen – beispielsweise die Seeluft an der Küste oder die Höhenluft in den Bergen – besonders heilsam waren.


Alltag in Kinderheilstätten: Tagesabläufe, Betreuung und Finanzierung

Kaspar beschreibt detailliert die Alltagsabläufe in diesen Heimen. Dazu gehörten feste Tagesstrukturen mit geregelten Mahlzeiten, Ruhezeiten, therapeutischen Anwendungen und pädagogischen Aktivitäten. Die Kinder wurden oft von Diakonissen oder Ordensschwestern betreut, die nicht nur Pflegeaufgaben übernahmen, sondern auch als Bezugspersonen fungierten. Die Finanzierung der Kuren war komplex und erfolgte oft durch eine Mischung aus öffentlichen Mitteln, Spenden und Eigenbeteiligungen der Familien. Es gab auch Freistellen, deren Kosten von Gemeinden, Korporationen oder Privatleuten übernommen wurden, um auch Kindern aus ärmeren Verhältnissen eine Kur zu ermöglichen.


Psychologische Aspekte: Kinderkur und familiäre Trennung

Der Autor thematisiert auch die psychologischen und sozialen Auswirkungen der Kinderkur auf die betroffenen Kinder. Während die Kur einerseits zur Genesung beitragen sollte, bedeutete sie für viele Kinder auch eine Trennung von der Familie und der gewohnten Umgebung. Kaspar beleuchtet, wie die Heime versuchten, diesen Herausforderungen zu begegnen und den Kindern eine möglichst angenehme und förderliche Umgebung zu bieten.


Beispiele historischer Kinderheilstätten: Charlottenhall und Bethlehemstift Zwiesel

Die „Kinderheilstätte Charlottenhall“, 1897 eingeweiht, wird als Beispiel für eine sorgfältig eingerichtete und aufwendige Einrichtung genannt. Sie konnte in vier Kurperioden zwischen Mai und September jeweils 98 Kinder aufnehmen, wobei Diakonissen die Pflege übernahmen und Freistellen die Kosten für Bedürftige deckten. Die Stiftung Charlottenhall existiert bis heute als Rehabilitations- und Vorsorgeklinik für Kinder und Jugendliche, und ihre historischen Gebäude sind als Baudenkmal geschützt. Ein weiteres Beispiel ist der Bethlehemstift Zwiesel, der 1900/01 als Kuranstalt für schwächliche Kinder gegründet wurde.


Fred Kaspars Aufsatz leistet einen wichtigen Beitrag zur Erinnerung an ein lange vergessenes Kapitel der deutschen Sozial- und Medizingeschichte. Er macht deutlich, dass die Kinderkur nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein soziales und kulturelles Phänomen war, das das Leben von Generationen von Kindern und ihren Familien prägte. Die von Diakonie und Caritas getragenen Heilstätten waren dabei zentrale Akteure, die in einer Zeit, in der die öffentliche Gesundheitsversorgung noch in den Kinderschuhen steckte, einen wichtigen Beitrag zur Fürsorge für bedürftige und kranke Kinder leisteten.

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