Entstehung, Entwicklung und Bedeutung
von Bernhard Weller
Die Balneologie, die Lehre von der Anwendung von Bädern und Heilquellen, ist so alt wie die Medizin selbst. Schon in der Menschheitsgeschichte spielte das Wissen um die Bedeutung und Heilwirkung von Wasser eine zentrale Rolle. Wasser ist essenziell für unser Überleben, spendet Wohlbefinden und ist eng mit Sauberkeit und Gesundheit verbunden. Besonders mineralreiches Wasser, sogenannte Heilwässer, entfalten dabei besondere Effekte.
Ein frühes Beispiel für die heilsame Wirkung von Wasser findet sich im Jahr 1378 in Nieder-Wildungen. Eine „gar weise“ Person leitete eine Quelle in das Städtchen, um die Wasserversorgung zu verbessern. Wenige Jahre später wurde erfreut festgestellt, dass „kein Bürger mehr mit dem Blasensteine befallen“ sei – ein eindeutiger Beweis für die Heilkraft des Wassers. Diese reinen Beobachtungen und Erfahrungen bilden oft den Ursprung des Wissens um die Nutzung von Quellen.

Foto: A. Kircher-Kannemann CC BY-SA 4.0
Mystik und Wissenschaft: Die Entwicklung der Balneotherapie
Die Annahme, dass die Natur Heilkräfte besitzt, ist uralt und findet sich in vielen Kulturen, oft verbunden mit mystischen und kultischen Entstehungsgeschichten. Doch ebenso alt sind die Versuche, diese Phänomene rational zu erklären. Schon Griechen, Römer und germanische sowie keltische Stämme versuchten, die Anwendung von Bädern zu präventiven und therapeutischen Zwecken zu systematisieren. Auch wenn dies noch keine wissenschaftlichen Ansätze im heutigen Sinne waren, leiten sich spätere medizinische Begründungen der Balneotherapie aus der antiken Gesundheitslehre ab.
Diese tief in die Vergangenheit reichenden Kausalitäten erschweren bis heute die rationale Einordnung der Balneologie in den medizinischen Kanon, ebenso wie die rein empirischen Beobachtungen der Wasserwirkungen, die viele Kurorte begründeten. Ein bekanntes Beispiel ist die Wunderheilung in Pyrmont im Jahr 1556, deren Kunde sich europaweit verbreitete und Zehntausende zum „hyligen Born“ lockte. Solche Phänomene sollten in der Renaissance, einer Zeit des geistigen Umbruchs, besser und rationaler beschrieben werden. Dies führte zu einer Wiederbelebung der Bäderheilkunde, die im Mittelalter weitgehend in Vergessenheit geraten war.

Frühe Forschungsansätze: Brunnenschriften und Badearztpraxis
Wenige Jahre nach Pyrmont begann in Wildungen eine präwissenschaftliche Forschung. Der Marburger Professor Dr. Johannes Wolff verfasste 1580 die Schrift „Von der Natur, den Kräften und dem vernünftigen Gebrauch der Wildunger Sauerbrunnen“. Seine Forschung basierte auf der Analyse des Quellwassers vor Ort und intensiven Beobachtungen der Wirkungen. Wolffs Schlussfolgerung lautete: je länger und je mehr, desto besser. Badezeiten wurden auf Stunden ausgedehnt, und ein Badeausschlag galt als sichtbarer Beweis einer erfolgreichen Therapie. Auch Trinkkuren sollten hauptsächlich durch die Menge des verabreichten Wassers wirken, belegt durch das Auftreten von Diurese und Durchfällen.
Brunnenschriften wie die von Wolff initiierten auch andernorts Badeärzte dazu, die Wirkungen ihrer Heilquellen zu dokumentieren, insbesondere da im 17. Jahrhundert die Trinkkur wichtiger wurde als die Badekur. Eine gewisse Konkurrenzsituation unter den Kurorten und Badeärzten führte jedoch oft zu unglaubwürdigen Übertreibungen der Indikationen. Eine einzige Heilquelle sollte gleichzeitig gegen eine Vielzahl von Beschwerden helfen, was die Seriosität der Balneologie in Frage stellte.
Kurorte im Wandel: Zwischen Heilbad und Gesellschaftsvergnügen
Diese überzogenen Indikationslisten, zusammen mit den mythenreichen Anfängen und der starken Bedeutung empirischer Beobachtungen, führten dazu, dass auch ernsthafte balneologische Erkenntnisse immer wieder in Zweifel gezogen wurden. Hinzu kam, dass sich im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert die eher ursprünglichen Bäder zu Kurorten entwickelten, die zu Stätten vornehmer Geselligkeit wurden. Reisen, Abwechslung, Tafelfreuden und gesellschaftlicher Austausch wurden zunehmend wichtiger als die rein medizinische Behandlung.
Diese Milieufaktoren betonten das Modebad mehr als das eigentliche Heilbad, was die Ernsthaftigkeit der medizinischen Fundierung des Kuraufenthaltes beeinträchtigte. Ein Badearzt war zwar weiterhin eine zentrale Anlaufstelle, doch seine wissenschaftliche Reputation litt unter diesen „modernen“ Entwicklungen. Ein Gedicht aus dieser Zeit, das den Badearzt als eleganten Charmeur beschreibt, der ohne tiefes medizinisches Wissen primär Komplimente verteilt, verdeutlicht dies treffend. Balneologie und Kurortmedizin hatten es aus diesen Gründen stets schwer, ihre Wissenschaftlichkeit unter Beweis zu stellen und im medizinischen Kanon ernst genommen zu werden.

Der Weg zur wissenschaftlichen Balneologie: Fortschritte und Herausforderungen
Dennoch sollte die Bedeutung der frühen Badeärzte nicht unterschätzt werden. Sie widmeten sich voller Überzeugung der Beschreibung ihrer Heilquellen, führten – bisweilen kuriose – Experimente durch und warben für die jeweiligen Kurorte. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts setzte sich eine rationalere Sichtweise durch. Christoph Wilhelm Hufeland verfasste seine Schrift „Praktische Übersicht der vorzüglichsten Heilquellen Teutschlands“ nach den Grundsätzen der neueren, auf Erfahrung basierenden Heilkunde.
Mit der Wildunger Georg-Viktor-Quelle verbindet sich eine besondere medizinische Errungenschaft: Aufgrund des über Jahrzehnte gesammelten urologischen Wissens entwickelte der Badearzt Carl Rörig in Zusammenarbeit mit Professor Wilhelm Roser, einem herausragenden Chirurgen der Universität Marburg, 1869 die Lithotripsie (Zertrümmerung von Blasensteinen). Dieses Verfahren ging als „Wildunger Operation“ in die Medizingeschichte ein und steht als einzigartiges Beispiel für die frühe fruchtbare Zusammenarbeit zwischen spezifischem balneologischem Wissen und chirurgischer Kompetenz.
Meilensteine der Balneologie: Osann, Fachzeitschriften und Berufsverbände
Als eigentlicher Begründer der wissenschaftlichen Balneologie gilt Emil Osann (1787-1842). Als Neffe und Assistenzarzt von Hufeland forschte er intensiv zur Wirkung von Heilquellen. Sein Werk „Physikalisch-medicinische Darstellung der bekannten Heilquellen der vorzüglichsten Länder Europas“ gilt als erstes umfassendes Werk der Balneologie. Die Gründung der „Balneologischen Zeitung“ 1847, das offizielle Organ des Vereins der Kurorte- und Mineralquelleninteressenten Deutschlands, Österreich-Ungarns und der Schweiz, war eine weitere bedeutungsvolle Publikation.
Ein wichtiger Meilenstein für das Ansehen der Balneologie war die Gründung der „Balneologischen Section“ der Gesellschaft für Heilkunde in Berlin im Jahr 1878. Ziel war es, die Wirkungen von Heilquellen und Klima wissenschaftlich zu begründen und die balneologische Erfahrungsheilkunde in den Gesamtbereich der Medizin zu integrieren. Diese Bestrebungen stießen jedoch außerhalb der Gemeinschaft von Badeärzten und Praktikern weiterhin auf Skepsis. Durch die Zusammenführung mit der Hufeland-Gesellschaft entstand 1889 die „Balneologische Gesellschaft“, die ihre Aufgaben und Zielsetzungen kontinuierlich an historische Ereignisse und medizinische Fortschritte anpasste.

Institutionalisierung und Anerkennung: Die Entwicklung der Fachgesellschaften
Die kontinuierlichen Umbenennungen der Gesellschaft spiegeln den stetigen Legitimationsdruck wider, auch gegenüber politischen und wirtschaftlichen Einflussnahmen. Namen wie „Deutsche Gesellschaft für Bäder und Klimakunde“ (1934), „Deutsche Gesellschaft für Physikalische Medizin“ (1964) und schließlich „Deutsche Gesellschaft für Physikalische und Rehabilitative Medizin“ (2018) zeigen die Erweiterung des Aufgabenbereichs und die Anpassung an aktuelle medizinische Schwerpunkte.
Um 1900 entstanden weitere balneologische Fachverbände und Interessengruppen, wie die „Standesvereinigung Reichsdeutscher Badeärzte“ (1894) und der „Kneippärztebund“ (1894). Die Gründung des Allgemeinen Deutschen Bäderverbandes im Jahr 1892 war ebenfalls entscheidend, da sie eine Verknüpfung von wissenschaftlicher Fundierung mit wirtschaftlichen Interessen schuf. Der Bäderverband setzte sich für die Hebung der deutschen Kurorte, die wissenschaftliche Förderung der Balneologie und ein enges Zusammenwirken zwischen Badeärzten und Kurverwaltungen ein. Publikationen wie das „Deutsche Bäderbuch“ und der „Deutsche Bäderkalender“ trugen zur Verbreitung des Wissens bei, ebenso wie die jährlichen Bädertage, deren wissenschaftliche Beiträge in Sonderdrucken veröffentlicht wurden.
Balneologie an der Hochschule: Ein Stiefkind der Wissenschaft?
Trotz ihres historischen Gewichts, ihres zunehmenden wissenschaftlichen Ranges durch chemische Grundlagenforschung (Bunsen, Liebig) und Quellanalysen (Fresenius), sowie ihrer wachsenden volkswirtschaftlichen Bedeutung, blieben die Balneologie und die Physikalische Therapie stets ein „Stiefkind“ der wissenschaftlichen Hochschulen. Bereits 1927 kritisierte Max Hirsch, dass Universitäten die Bäderkunde nicht ausreichend in ihr Arbeitsgebiet integrierten. Auch Heinrich Vogt plädierte 1927 für die Gründung „balneologischer Akademien“, betonte jedoch, dass der wissenschaftliche Unterricht an den Universitäten bleiben müsse.
Noch 1954 wurde in der „Zeitschrift für angewandte Bäder- und Klimaheilkunde“ beklagt, dass Balneologie und Klimatologie als Lehrfächer an Hochschulen eine Seltenheit seien und die wissenschaftliche Forschung verzettelt und isoliert bleibe. Dennoch brachte das 20. Jahrhundert die Einrichtung von universitären Lehrstühlen und Instituten für Physikalische Medizin, darunter das Institut für Physikalische Medizin und Balneologie der Universität Gießen in Bad Nauheim (1917) und das Institut für Medizinische Balneologie und Klimatologie der Universität München (1950).
Forschungsboom und Strukturwandel: Balneologie heute
Mit der breiten Zusammenarbeit von kurörtlichen Instituten und universitären Fachbereichen erfuhr die Balneologie eine enorme qualitative Aufwertung ihrer Wissenschaftlichkeit und eine Steigerung des quantitativen Outputs. Zahlreiche Dissertationen entstanden, die alle Bereiche der balneologischen und kurmedizinischen Forschung umfassten. Insbesondere die Qualität von Heil- und Mineralwässern wurde in Reihenuntersuchungen getestet, und Studien zur Anwendung von Moor, Sole und Kohlensäure sowie zum Einfluss natürlicher Heilmittel und des Klimas auf den Biorhythmus wurden durchgeführt.
Die Modalitäten für den Erwerb der Zusatzbezeichnungen „Badearzt“ und „Physikalische Therapie und Balneologie“ wurden präziser definiert, und Fortbildungsprogramme wurden angeboten. Handbücher, Kompendien und Periodika wurden in größerer Zahl verfasst. Allerdings kam es in der Folgezeit, insbesondere nach der sogenannten Kurkrise 1995/96, zu Schließungen oder Umorientierungen von wissenschaftlichen Instituten. Das Forschungsinstitut für Balneologie und Kurortwissenschaft Bad Elster, eine staatliche Einrichtung mit zeitweise über 50 Wissenschaftlern, wurde 2006 geschlossen und durch das FBK Deutsches Institut für Gesundheitsforschung ersetzt, das sich auf systematische Reviews und klinische Studien zu nicht-pharmakologischen Interventionsverfahren konzentriert.
Aktuelle Herausforderungen und Zukunftsperspektiven der Kurmedizin
Die institutionelle Verankerung von Forschungsinstituten ist in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen, und auch die Zahl der Lehrstühle hat sich verringert, mit nur noch wenigen wirklich starken Standorten wie Berlin, München, Rostock und Hannover. Die Inhalte der kurmedizinischen Forschungen orientieren sich heute stärker an rehabilitativen Themen, die moderne Krankheitsbilder wie psychosomatische Erkrankungen abbilden.
Trotzdem sind Kurorte besondere Orte, an denen Therapie, Erholung, kultureller und sozialer Austausch seit jeher verschmelzen. Ihr ältestes Alleinstellungsmerkmal sind die natürlich vorhandenen Heilmittel. Diese zu pflegen und zu bewerben ist nicht nur touristisch sinnvoll, sondern auch entscheidend für die Wiedererlangung eines unverwechselbaren Profils im Wettbewerb. Die Bestrebungen einer Stadt wie Bad Kissingen, die Kur mit modernen Inhalten aufzuladen und möglicherweise auch institutionell im Rahmen eines Landesamtes für Gesundheit zu verankern, sind nicht nur verdienstvoll, sondern auch eine clevere Strategie, um die Relevanz der Kurmedizin in der heutigen Zeit zu sichern.
Autor: Bernhard Weller, Städtische Museen Bad Wildungen